Ich konnte es kaum erwarten, dass der Mähdrescher kommt und uns wieder freie Sicht schenkt. Monatelange war der Mais mittlerweile in unüberblickbare Höhe gewachsen.
Nach getaner Arbeit war ich erstaunt: Obwohl ich den Ausblick in die Landschaft gut kenne und überaus liebe, erschien er mir wie neu. Als hätte ich mich bereits an die Einschränkung gewöhnt.
Manchmal wachsen uns Gewohnheiten über den Kopf und geben uns den Blick auf Wesentliches, auf unsere Werte nicht mehr frei.
Womit häckseln Sie Ihren persönlichen Wild-wuchs?
DRASTISCH
Einen Moment musste ich innehalten: in einem Versuch sollten Menschen längere Zeit allein in einem leeren Raum verbringen, ohne Optionen zur Ablenkung – weder Bücher, Zeitschriften noch digitale Kommunikationsmittel waren erlaubt. Eine klare Ansage, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein.
Eine Option stellte man den Probanden doch zur Verfügung: einen Elektroschocker! Nicht wenige machten davon in leichter Dosis Gebrauch - um die Langeweile zu überbrücken, aus Neugier, aus Mangel an sinnvollen Alternativen. Volker Busch schreibt in seinem äußerst empfehlenswerten Buch ‚Kopf frei‘ unter anderem darüber (Details siehe unten).
Beim Lesen war ich schockiert. Keiner der Probanden dachte davor von sich, dieses Gerät zu verwenden ... und dann taten es eben doch mehr als erwartet. Als würde das Nichts-Tun-Können mit den verbundenen unangenehmen Gefühlen und Wahrnehmungen wie Maispflanzen in die Höhe schießen und den wertvollen Alternativen die Perspektive nehmen.
ALTERNATIV
Natürlich würde auch ich den Schocker nicht verwenden, sage ich mir ... und beleuchte meine individuellen Automatismen. Ich frage Sie gleich mit:
Wozu verleiten mich meine Reflexe, wenn ich an der roten Ampel stehe?
Was kommt mir als erstes in den Sinn, wenn ich in einer Praxis warten muss?
Wo wandern meine Gedanken hin, wenn sich ein unerwartetes Zeitfenster öffnet?
Ablenkungen wie Wischen und Tippen auf unserem Handy sind gewiss kein Vergleich mit einem selbstverletzenden Gerät und gleichzeitig gar nicht so weit davon entfernt. Wir tragen zwar keinen körperlichen Schmerz davon – außer vielleicht Haltungsschäden, doch:
Wohin führen uns diese Ablenkungen? Hören wir uns selbst in diesem Moment zu?
Wie würde ein Gegenüber reagieren, wenn wir mitten im Gespräch unser Smartphon zücken und seinen Inhalten verfallen, statt jenen des konkreten Menschen. Der Gesprächspartner könnte verstummen, auf sich aufmerksam machen, sich verabschieden. Es verwundert also kaum, wenn unser Innerstes verstummt, auf sich aufmerksam macht oder wir mit uns selbst wie beziehungslos nebeneinander her leben.
Mit Ablenkung ist weder eine Recherche im Internet oder das Senden einer wichtigen Nachricht gemeint. Dem Dahintrödeln und mal Versumpfen soll auch nicht das Messer angesetzt werden. Wenn die Dinge ins Übermaß kippen, wird es einfach unangenehm. Sie wissen, was ich meine und kennen sich selbst am besten.
Wie wäre es, wieder mit eigenen Werten Blick-Kontakt aufzunehmen, in Beziehung zu treten? Frankl fragt nach drei wesentlichen Aspekten:
Welches Tun ist mir besonders wichtig? (Schaffenswerte)
Was erlebe ich bei diesem Wirken? (Erlebniswerte)
Worauf richte ich mein Leben aus? Wofür will ich leben? (Einstellungswerte)
Mitunter haben sich manche Ihrer Werte ganz natürlich im Lauf der Jahre verändert. Wie ist es denn jetzt?
Dass manche Bequemlichkeits-, Angst-, Zweifel-Pflanzen durchaus schnell wachsen können, ist nicht dramatisch. Weshalb? Wir sind fähig, in Distanz zu gehen, unser Innerstes kann dem Wild-wuchs trotzen und in Bewegung kommen. Hat der innere Mähdrescher seine Arbeit getan, atmen wir bei freiem Blick auf und leben mit unserem Innersten und miteinander wieder
IN LEBENDIGER BEZIEHUNG
INS WORT FALLEN
UND BEI BIBLISCHEN GESTALTEN AUFGEHOBEN SEIN
Eine gute Möglichkeit, dem eigenen Wildwuchs und Werten auf den Grund zu gehen ... im Spiegel biblischer Gestalten und traumhafter Umgebung
09.-11. Dezember 2022, Propstei St. Gerold
BUCHEMPFEHLUNG
Prof. Dr. Busch, Volker, Kopf frei – Wie Sie Klarheit, Konzentration und Kreativität gewinnen,
2021, Droemer Verlag
Den im Text beschriebenen Versuch finden Sie auf S. 207
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