EIN NEUES GESETZ

In den kommenden Wochen wird die Zeit mit Tageslicht kürzer.

 

Was liegt da näher, als sich mit einer Kerze, einer Schale Tee und Büchern zurückzuziehen?

 

Deshalb will ich Ihnen diesmal eine Geschichte von Tieren erzählen, die sich ebenso unter Menschen zutragen könnte …

 

Wie vereinbart kamen sie alle zur Versammlung am Fluss: gezählte Adler mit weitem Flügel­schlag, Fische nahmen ihre Stellung in der Nähe des Ufers ein, Bären- und Affen­familien ver­suchten ihre Jungen einigermaßen beisammenzuhalten, Faultiere trudelten gewohnt zu spät, aber gelassen ein und das Chamäleon zeigte sich in entsprechender Farbe, nachdem es zur ei­genen Freude noch rasch einen Fliegen-Snack einfing.

‚Werte Freunde’ eröffnete Silberrücken Ben seine Rede ‚und Innen’ warf sein Weibchen Kira dem Goldstück von Männlichkeit eilig nach. ‚Und Innen’ ergänzte er räuspernd. ‚In den ver­gan­genen Wochen häuften sich nicht undramatische Konflikte. Die Verschiedenheit unser aller Be­dürfnisse gab mir Anlass zum Nachdenken und zu einer Veränderung.’ Erleichtertes Aufatmen ging durch Nüstern, Kiemen und Poren der Anwesenden. Endlich sollte das Zu­sam­menleben einfacher werden.

Nach bestätigendem Zunicken, aufgeregtem Schlagen der Flügel und der dadurch erweckten Aufmerksamkeit der Faultiere, die die Eröffnung doch wieder verschlafen hatten, hob Ben erneut an. ‚Ich habe daher beschlossen, dass fortan folgendes Gesetz gilt:

Erstens zur leichteren Verständigung: Jeder’ ‚Und JEDE’ schmetterte seine Herzliebste be­reits ein wenig genervt. ‚Und JEDE’ ergänzte er durchaus widerwillig ‚brüllt oder schreit nur dann, wenn niemand anderer gerade einen Laut von sich gibt. Nehmen wir uns ein Beispiel an den Fischen; bei ihnen klappt das hervorragend!’ Bravo konnten sie schlecht rufen, doch das wäre der ideale Zeitpunkt für die Flossenträger gewesen. Freudig lüfteten sie ihre Kie­men und hörten gespannt zu, ob noch ein Kompliment für sie abfallen würde.

‚Zweitens’ holte sich Ben die Aufmerksamkeit zurück ‚um keine Konkurrenz aufkommen zu lassen: wir bewegen uns fortan im Tempo der Faultiere. Ich denke, dass uns ein achtsamer im Umgang mit unserer Geschwindigkeit gut tut. Sehen wir sie an: es wirkt doch ent­span­nend, nicht?!’ Wären sie wach gewesen, hätten sich die Faultiere bestimmt gefreut.

‚Drittens aus Rücksicht aufeinander und um egoistische Bedürfnisse einzudämmen: unser al­ler Lebensraum befindet sich ab sofort auf Boden, Sträuchern und Bäumen.

Ich danke euch für euer Engagement und eure Rücksicht. Gemeinsam schaffen wir das!’ und mit ein paar trommelnden Fausthieben befestigte er das neue Gesetz an einem Baum.

 

Hier ein Schlucken, dort ein Husten, dazwischen fragende Blicke bis der Grand Seigneur der Bären, Ko, sich zu einem ‚Wenn es denn hilft’ hinreißen ließ. Erleichterung machte sich breit – natürlich, immerhin hatte der Silberrücken gesprochen, der hat viel Erfahrung und Wissen. Die Versammlung galt als beschlossen und beendet, und alle zogen sich lautlos auf den er­laubten Pfaden zurück. Nicht zu schnell wohlgemerkt.

Nur die Fische blieben im Flussbett stehen – verstummt mit offenem Maul. Wie sollten sie nur die Sache mit dem Bewegen an Land hinbekommen? Aber Vorschrift ist Vorschrift, und vielleicht lässt die ihnen ja auch noch Füße wachsen.

Die Kinderstuben glichen zunehmend einem Gruselkabinett: Wie streitet man sich, wie lässt es sich freuen, wenn nicht gleichzeitig losgebrüllt werden darf und man damit aufeinander warten muss? Aber Vorschrift ist Vorschrift, und es würde sich schon ein Weg finden lassen.

Zunehmend saßen Einzelne nachdenklich am Fluss, und würgendes Unbehagen nahm sich gren­zen­los Raum. Wieso fühlte sich das Leben so eingesperrt an? Wie konnte es sein, dass keine wirk­liche Freude mehr spürbar war?

 

Selbst Ben wurde seit Tagen sein Ziehen im Magen nicht mehr los. Als er eines Abends den drohenden Tod der Fische sah, die sich mit aufrechter Mühe an Land quälten, stieß er einen Schrei aus, der Mark, Bein, Herz und Nieren erschüttern ließ. So schnell er konnte, lief er zum Ufer, packte mit aller Behutsamkeit seiner Pranken jeden Fisch und setzte sie alle ins Wasser zurück. Schweißtriefend kniete er danach am Ufer und weinte. Sein Irrtum fiel ihm wie Schuppen von den Augen. ‚Bitte vergib mir’, stammelte er beschämt hervor, hoffend da wäre wirklich jemand voll Erbarmen. ‚Ich war so …’ Unbemerkt war sein Weibchen näher gekommen und nahm ihn in die Arme. Auch sie hatte sein Ringen schon einige Zeit gespürt.

Gemeinsam durchwachten die beiden diese heilsame, heilende Nacht.

Als sie am Morgen mit einem tiefen Atemzug erwachten, blickten sie als erstes ins Wasser. Unzählige Augen sahen sie an. Die Fische hatten die Dunkelheit ohne Schlaf verbracht. In Sorge um den alten Konrad, der längst seine letzten Kiemenzüge erahnte, aber auch in Sorge um Silberrücken. Mit letzter Kraft zog sich Konrad in den frühen Morgenstunden zurück. Un­bemerkt ließ er sich jetzt die Sonne auf den Bauch scheinen – er war immer voll Humor und so wollte er auch sterben.

Alle anderen Fische waren wieder zu Kräften gekommen und in ihrem Element.

 

Nach dieser Erleichterung kamen die Adler eigentlich unerlaubt angeflogen und setzten sich vor den alten Affen. ‚Ben! Wir ehren dich, wir schätzen deine Weisheit, mit deiner Stärke wollen wir uns nicht messen. Doch sieh …’ Der Alte unterbrach sie mit einer Stimme, deren Wärme und Demut ans Herz ging. Mittlerweile hatten sich auch alle anderen eingefunden. ‚Liebe Freunde und FreundINNEN’ – Kira warf ihm einen Blick wie in den ersten Tagen zu. ‚Ich habe mich geirrt und euch Unrecht getan. Es wurde mir so schmerzlich be­wusst und ich bitte euch um Verzeihung. Wir sind doch so eine wunderbare Gemeinschaft, weil wir so unter­schiedlich sind. Niemals soll starre Stille sich ausbreiten, aus Angst vor einem Durcheinander, niemals gehören Fische an Land. Adler, hebt euch in die Lüfte und seid willkommen in unse­ren Baumkronen. Kinder, tobt und steckt uns an mit eurer Leben­digkeit. Faultiere, erinnert uns an Gelassenheit, …’ Genau, sie haben´ s wieder verschlafen, aber den Seinen gibt´ s der Herr auch an einem Ast hängend.

 

Diese Ansprache löste allen Krampf aus den Herzen. Sie durften sein wie sie sind und sie wollten einander sogar darauf aufmerksam machen, wenn einer unbedacht versuchte so zu sein wie die andere.

Zum Erstaunen aller meldete sich das Chamäleon zu Wort: ‚Ich üb mein ganzes Leben lang schon meine Farbe zu ändern. Ich hab das wirklich gut drauf. Wollt ihr mal sehen?’ Wie zig Scheinwerfer folgten alle Augen nun dem Farbenspiel. Ungewollt wurde Franz Ferdinand rot, als überschwänglicher Applaus einsetzte.

Sofort hingen die Affenkinder aufgeregt am Ohr ihrer Mutter. Als sie nickte, lief Bambu vor die versammelte Runde. ‚Wir, also meine Geschwister und Neffen und Nichten und noch ein paar möchten euch was zeigen. So lange wie Franz Ferdinand haben wir nicht geübt, aber wir können auch was!’ In Windeseile fielen, tanzten, sprangen die Kleinen herum. Da­zwischen war ein aufgeregtes ‚Hhh’ oder staunendes ‚Bau’ zu hören und in der letzten Reihe ein unendlich strahlend- brummender Silberrücken.

Ein Fest war das. Niemand musste mehr als er – und sie natürlich – konnte. Und sie machten einander Mut, noch besser zu werden. Unbemerkt lebten sie ein neues, ungeschriebenes Gesetz.

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